Uno-Reform: Fischer wirft Opposition Taktiererei vor
Berlin, 18. Juli 2005 – Außenminister Joschka Fischer hat seinen Willen zur Reform der Vereinten Nationen und zu einem deutschen Sitz im Weltsicherheitsrat bekräftigt. Deutschland sei ein wichtiges Land im Uno-System, »auch was finanzielle und militärische Beiträge« angehe, sagte Fischer im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. Er unterstütze die Reformvorschläge von Uno-Chef Kofi Annan. Der Opposition in Deutschland warf der Grünen-Politiker Taktiererei vor: Falls die Bundesregierung sich dagegen entschieden hätte, einen Sitz im Weltsicherheitsrat anzustreben, »hätten uns die gleichen Oppositionsstimmen, die sich heute gegen die deutsche Position wenden, vorgeworfen, wir würden die nationalen Interessen missachten«. Die deutsche Bevölkerung habe bei der Tsunami-Katastrophe gezeigt, »dass sie – quasi von unten – ebenfalls bereit ist, Verantwortung zu übernehmen«, sagte Fischer.
Nahost: Fortschritte im Friedensprozess
Trotz der jüngsten Spannungen zwischen Israelis und Palästinensern zieht der Außenminister eine grundsätzlich positive Bilanz des Friedensprozesses. Nach seiner 14. Nahost-Reise in der vergangenen Woche sagte er SPIEGEL ONLINE, dass es trotz aktueller schwieriger Lage in den Grundfragen Fortschritte gegeben habe. Die Grundsatzpositionen der Akteure »sind so nahe beieinander wie seit vielen Jahren nicht mehr«. Es gebe auf beiden Seiten die Erkenntnis, dass zum Frieden ein Kompromiss nötig sei. Leider gebe es auch »relevante Kräfte, die andere Vorstellungen haben«. Trotzdem sei die »jahrzehntelange Phase des bloßen Aufeinanderschießens« vorüber. Wann die erfolgreiche Phase des Verhandelns ohne Gewalt eintrete, sei noch offen. Die Bedeutung der Entwicklung in der Nahost-Region für Deutschland und Europa werde hierzulande immer noch »völlig unterschätzt«.
Terrorgefahr: Warnung vor Einschränkung der Bürgerrechte
Im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE warnte Fischer davor, die Gefahr des Terrorismus in Deutschland zu unterschätzen. Die Annahme, Deutschland sei gegen solche Anschläge gefeit, weil es nicht am Irak-Krieg teilgenommen habe, sei »Unfug«. »Die Täter sind vom Hass erfüllt, die werden keinen Unterschied machen«, sagte Fischer. Osama Bin Ladens Terror ziele auf die »offene, zivile Gesellschaft und auf unsere Grundwerte«, erklärte er. Der Dschihad-Terrorismus bediene sich modernster Strukturen. »Wenn wir uns total einmauern, unsere freie und offene Lebensart einschränken oder gar aufgeben, hat der Terrorismus gewonnen«, warnte Fischer. Der Terrorismus sei eine »nihilistisch-totalitäre Ideologie, die bekämpft werden muss«.
Gleichzeitig verteidigte Fischer die kritische Haltung der Bundesregierung zum Irak-Krieg. »Unsere Entscheidung war eindeutig richtig«, erklärte er. »Wir begreifen Freundschaft zu den USA als Freundschaft, Frau Merkel als Gefolgschaft«.
EU-Beitritt der Türkei: Fischer moniert »ideologische Position« der Union
Der Außenminister warf der Union im SPIEGEL-ONLINE-Gespräch Kurzsichtigkeit in der Europapolitik vor. Mit der Ablehnung der Türkei als EU-Mitglied nehme Kanzlerkandidatin Merkel eine ideologische Position ein und lasse »unsere Sicherheit außer Acht«. Die Frage, ob die Türkei geografisch und kulturell zu Europa gehöre, sei sicher berechtigt. Aber man müsse auch die Frage stellen: »Können wir es uns erlauben, dass die Türkei nicht zu Europa gehört?« Die feste Verankerung der Türkei in den europäischen Werten und eine starke Demokratie in einem großen, muslimischen Land sei zentral für die Frage, »ob unsere Sicherheit bei den Umwälzungsprozessen im Nahen Osten gewährleistet« sei.
Linkspartei: Fischer bezeichnet Lafontaine als »deutschen Haider«
Der Spitzenkandidat der Grünen übte scharfe Kritik am ehemaligen SPD-Vorsitzenden und Linkspartei-Kandidaten Oskar Lafontaine. »Links bedeutet Solidarität«, sagte Fischer im SPIEGEL-ONLINE-Interview. Wenn Lafontaine etwa polnische »Fremdarbeiter« angreife und damit den deutschen Rentner verteidigen wolle, sei das »tiefrechts«. Seine frühere Aussage, Lafontaine sei ein deutscher Pim Fortuyn, »muss ich wohl zurücknehmen. ›Deutscher Haider‹ passt besser zu ihm«, sagte Fischer. »Ich finde, links und national ist ein Widerspruch in sich«, erklärte der Grüne. Das Programm der Linkspartei sei »ein Verrat an der Jugend«. Die Rentenerhöhungsansprüche der PDS-Klientel müssten später die Jungen bezahlen. »Das würde einen Generationenkonflikt auslösen«, sagte der Minister.
Familienpolitik: Für Anspruch auf Kinderbetreuung ab erstem Lebensjahr
Joschka Fischer will einen gesetzlichen Anspruch auf Kinderbetreuung ab dem ersten Lebensjahr durchsetzen. Das sei die entscheidende Vorraussetzung für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, sagte er SPIEGEL ONLINE. Die Union wolle aus ideologischen Gründen »die bereits erreichten Fortschritte in der Kinderbetreuung zurückdrehen und setzt stattdessen auf die nicht finanzierbare Zu-Haus-Bleib-Prämie für junge Mütter und völlig unrealistische Steuerfreibeträge«, erklärte Fischer. Im Gegensatz zur Union hätten die Grünen der Versuchung widerstanden, »Versprechungen zu machen, die nicht erfüllbar sind«. Die Familienpolitik der Union »rechnet sich hinten und vorne nicht«.
Wahlkampf: Fischer wirft Merkel autoritäres Politikverständnis vor
Der Kanzlerkandidatin der Union warf Fischer ein autoritäres Politikverständnis vor. »Wenn ich mir anhöre, was Frau Merkel sagt: ›Durchregieren‹, ›Politik aus einem Guss‹ − da kommt die Vor-68er Prägung durch«, sagte der Grünen-Spitzenkandidat SPIEGEL ONLINE. Die Konservativen hätten nie verwunden, »dass wir 1998 eine linke Mehrheit gewonnen und 2002 verteidigt haben«, erklärte er. Im Wahlkampf 2002 »hat niemand auf uns einen Pfifferling gegeben«. Auch diesmal »werden wir kämpfen bis zur letzten Sekunde«. Fischer: »Wir sind keine Leichtmatrosen.« Seine Partei sei »richtig heiß« auf diesen Wahlkampf. »Über alles andere reden wir ab 19. September.«
Das vollständige Gespräch mit Joschka Fischer ist unter www.spiegel.de abrufbar.
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