Viele Kunstschätze aus Ägypten seien während der Kolonialzeit unrechtmäßig in deutsche Museen gebracht worden, sagt der Hamburger Historiker Jürgen Zimmerer in einem Interview für die aktuelle Ausgabe von SPIEGEL GESCHICHTE „Das alte Ägypten“. Dazu gehöre auch die Büste der Nofretete, die 1912 von einem deutschen Archäologenteam in Ägypten entdeckt und nach Berlin gebracht wurde. „Die Nofretete gelangte unter den Bedingungen der europäischen Fremdherrschaft nach Deutschland, die Ägypter hat niemand gefragt. Nach ethischen Maßstäben kann die Antwort deshalb nur lauten: Die Nofretete gehört nach Ägypten“, so Zimmerer. Ägypten war bis 1882 eine Provinz des Osmanischen Reichs und stand danach bis 1919 de facto unter britischer Herrschaft.
Dennoch spielten Objekte aus Ägypten in der Diskussion um die Rückgabe kolonialer Raubkunst bisher eine untergeordnete Rolle, so Zimmerer im Interview: Während die europäischen Kolonialmächte bis Ende des 19. Jahrhunderts geleugnet hätten, dass es überhaupt afrikanische Kunst geben könne, hätten sie Ägypten als „Hochkultur“ und als Vorläufer der europäischen Kultur betrachtet. „Daraus wurde das Anrecht abgeleitet, Objekte aus Ägypten ausstellen oder sogar besitzen zu dürfen“, so Zimmerer. Er fordert die Museen auf, einzugestehen, dass Kunst aus Ägypten vor dem Ersten Weltkrieg unter zweifelhaften Umständen erworben wurde – und eine Rückgabe anzubieten.
Weitere Themen im Heft:
Die Nofretete ist eines der Highlights des Ägyptischen Museums in Berlin – und längst so etwas wie eine Marke, ebenso, wie das ganze alte Ägypten. Mumien, Goldschätze, geheimnisumwitterte Grabkammern, solche Bilder prägen den Blick auf das Land am Nil. Doch wie entstand das Reich der Pharaonen, das beinahe drei Jahrtausende Bestand hatte? Warum blieben die Hieroglyphen so lange ein Rätsel? Und wie lebten einfache Menschen damals? Die aktuelle Ausgabe von SPIEGEL GESCHICHTE beleuchtet die komplexe historische Realität im antiken Ägypten und erzählt, wie sich die Deutungen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Laufe der Zeit verändert haben.
Lange prägten die Erzählungen und Interpretationen früher Entdecker den Blick auf das Land am Nil. Einen wahren Ägypten-Boom löste der Ägypten-Feldzug Napoleons ab 1798 aus. Howard Carter, der 1922 auf abenteuerliche Weise im Tal der Könige das Grab Tutanchamuns fand, wurde legendär – aber eine wissenschaftlich weitaus wichtigere Expedition war bereits 1842 aus Preußen nach Süden aufgebrochen: Ihr Leiter Richard Lepsius wurde damit zum Begründer der deutschen Ägyptologie.
Schritt für Schritt ergründeten Forscherinnen und Forscher immer mehr Details über das Leben im alten Ägypten. Inzwischen können sie den Alltag am Nil rekonstruieren, wissen viel über die Religion der Ägypter und sogar darüber, wie die Menschen damals die Welt und die Natur um sich herum deuteten. Vor allem über die Herrschaft großer Pharaonen wie Djoser, ¬Sesostris I. oder Ramses II. sind erstaunlich viele Einzelheiten bekannt. Doch auch Überraschendes ist zu Tage getreten: So spielten Frauen am Nil politisch eine weitaus größere Rolle als in der europäischen Antike. Einige regierten sogar als Pharaonen – wie Hatschepsut oder Kleopatra – oder bestimmten als Königsgattinnen die Politik ihrer Männer maßgeblich mit, wie Nofretete. Und jahrtausendealte Gerichtsprotokolle verraten sogar Biographisches über frühe Grabräuber. Aber auch neue Fragen stellen sich angesichts der neuen Erkenntnisse – etwa, ob es ethisch überhaupt vertretbar ist, Mumien auszustellen.
Entzaubert wird das alte Ägypten durch die neuen Forschungen nicht. Zwar nimmt man zum Beispiel heute an, dass nicht Sklaven, sondern vorwiegend spezialisierte Handwerker die Pyramiden errichteten, doch wie die beim Bau der Pharaonengräber tatsächlich vorgingen, darüber sind sich die Experten keineswegs einig. Die Kultur des alten Ägypten war faszinierend – und wird es bleiben.
Die aktuelle Ausgabe von SPIEGEL GESCHICHTE „Das alte Ägypten. Eine versunkene Zivilisation wird neu entschlüsselt“ erscheint am 24. März 2020 zum Copypreis von 9,50 Euro. Die digitale Ausgabe ist bereits heute ab 18 Uhr verfügbar. Morgen im Laufe des Tages ist die Print-Ausgabe zudem unter www.amazon.de/spiegel erhältlich.